Frankfurter Allgemeine – 6 novembre 2017

Jil Sander in Frankfurt : Die Schau und die Scheue

Der Mode ganz nah: Die ersten Besucher in der Ausstellung am Freitagabend. Bild: Helmut Fricke
Modedesigner locken überall auf der Welt Scharen von Besuchern in die Museen. Schafft es das
Frankfurter Museum Angewandte Kunst mit Jil Sander?

Ihr Auftritt am Donnerstagvormittag in Frankfurt erinnert an damals nach ihren Schauen in Mailand.
Nachdem das letzte Model zum Finale vom Laufsteg Richtung Backstage abgetreten war, stand Jil
Sander für gewöhnlich von einem Moment auf den anderen dort. Sie zeigte sich dann kurz den
Fotografen, und weg war sie schon wieder. Sollten sich andere tief verbeugen oder gar ein paar Meter
über den Laufsteg schreiten. Ihr Ding war das nie.

Nun ist die Frau Jil Sander schon länger nicht mehr an dem Haus Jil Sander tätig. Vor vier Jahren um
diese Zeit verließ sie es zum dritten Mal in ihrer Karriere. Am Donnerstagvormittag aber erinnert ihr
Auftritt trotzdem an damals. Auf der zweiten Etage des Frankfurter Museums Angewandte Kunst (MAK)
haben sich etliche Fotografen und Journalisten versammelt, dann kommt die Modedesignerin um die
Ecke. Dunkelblauer Strickpullover, dunkle Hose, so wie damals, wie immer. Dazu trägt sie eine
Sonnenbrille auf der Nase. Sie schaut kurz in die Kameras, streckt die Arme hoch. Und weg ist sie
wieder. Es ist der typische, scheue Jil-Sander-Auftritt. Nur, hier geht es um mehr als damals nach ihren
Schauen. Es ist die überhaupt größte Schau dieser Designerin, und sie ist ihrer eigenen Person
gewidmet. Seit gestern zeigt sie das Frankfurter Museum Angewandte Kunst, und Jil Sander hat daran
in den vergangenen Monaten kräftig mitgearbeitet.

Eine Einzelausstellung über eine prominente Figur aus der Mode. Mit dem Konzept locken Museen
überall auf der Welt gerade Scharen in ihre Häuser. Wer zum Beispiel dieser Tage die Dior-Ausstellung
im Musée des Arts Décoratifs in Paris sehen will, muss sich nicht nur an Wochenenden hinten
anstellen, also Hunderte Meter weit vom Eingang entfernt. Vor den Türen des neuen Yves-Saint-
Laurent-Museums der Stadt sieht es nicht besser aus, Besucher brauchen hier sogar noch mehr
Geduld. Und das Victoria & Albert Museum in London zeigt in diesem Herbst das Werk des spanischen
Couturiers Cristóbal Balenciaga. An die Besuchermenge, die vor zwei Jahren durch die Räume zur
Ausstellung über Alexander McQueen zog, wird das Haus trotzdem nur schwer herankommen. 480
000 verkaufte Tickets waren es innerhalb von fünf Monaten, die am besten besuchte Ausstellung in der
Geschichte des Museums.
:
Kurz vor Schluss gab es sogar Zeitslots für mitten in der Nacht, zwischen 22 und 5.30 Uhr morgens. Es
handelte sich dabei ja auch um jene legendäre Schau, die 2011 im New Yorker Metropolitan Museum
(Met) zu sehen war (674 000 Tickets) und damit überhaupt erst das Konzept der Ausstellung über
einen Modedesigner auf ein neues Blockbuster-Niveau gebracht hat, mit Warteschlangen um die
Straßenecken. Klar gibt es seit Jahrzehnten Modeausstellungen, in jenem New Yorker Met etwa, seit
die ehemalige Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, Diana Vreeland, dort 1973 als Beraterin
anfing. Aber Mode im Museum, das war zugleich lange Zeit ein schwieriger Fall. Mode will getragen
und nicht hinter Glaskästen konserviert werden. Mode im Museum, das könnte allerdings ebens0
gerade deshalb funktionieren. Da sie ihren Platz im Leben der Menschen selbstverständlicher hat als,
sagen wir, die Alten Meister.

„Man wusste, man zieht es an und ist gewappnet“

Die vage Vorstellung, die man schon von einem Modemacher habe, bevor man in die Ausstellung
gehe, sei ein Grund für den Erfolg in Museen, sagt auch Matthias Wagner K, Direktor des Frankfurter
Museums Angewandte Kunst und verantwortlich für die Schau über Jil Sander. Seit fünf Jahren ist er
hier tätig, Jil Sander habe von Beginn an ganz oben auf seiner Liste für eine Ausstellung gestanden.
Vor anderthalb Jahren habe man sich dann zum ersten Mal getroffen. Matthias Wagner K bot Jil
Sander nicht etwa eine Etage, sondern das gesamte Haus an, für die Gestaltung einer Ausstellung, die
jene vage Vorstellung für Besucher konkretisieren sollte. Besonders Frauen, die mit der Designerin
aufwuchsen, dürften sich angesprochen fühlen. Jene, die Jil Sander in den achtziger und neunziger
Jahren einkleidete, als diese auf dem besten Weg waren, sich in der noch stärker von Männern
dominierten Welt zu behaupten.

Matthias Wagner K erinnert sich an Frauen, die ihm in den vergangenen anderthalb Jahren während
der Arbeit an der Ausstellung begegnet sind und von jenem Gefühl berichteten. „Die gesagt haben, in
Kleidern von Jil Sander konnte ich so in den Gerichtssaal gehen und mich geschützt und präpariert
fühlen für das, was vor mir liegt.“ Wer sich die hochpreisigen Stücke zu der Zeit leisten konnte, musste
noch nicht einmal sonderlich stilsicher sein. „Man wusste, man zieht es an und ist gewappnet.“ Es ging
der Modemacherin Jil Sander ja um sie, um diese Kundin, und dadurch unterschied Sander sich
tatsächlich von ihren überwiegend männlichen Kollegen, die Mode oft als etwas Theatralisches
verstanden.

Dass Jil Sander das ganz anders sah, zeigt auch das MAK: Ein ganzer Raum ist einer Serie schlichter,
überwiegend schwarzer Kleidungsstücke gewidmet, Mänteln, so voluminös wie ein Kokon, oder mit
festen Gurten, Blazern, Cocktailkleidern. Die Entwürfe sind mal dreißig Jahre alt und jetzt neu
aufgelegt, mal vier Jahre. Alles ist stimmig – und stark, selbst an den leblosen Puppen. Und apropos
Mode, die im Museum schnell fad wirken kann: Der französische Klangkünstler Frédéric Sanchez hat
für jeden Raum ein Konzept entworfen. Der Sound zu den schwarzen Stücken: entschlossene Schritte,
Klaviertöne. Eine Video-Installation ihrer Laufsteg-Präsentationen aus den Jahren 1989 bis 2014 wird
hier nicht auf einer Leinwand gezeigt, es sind drei. Die Clips nehmen den Besucher ein, indem sie
chronologisch ungeordnet von Look zu Look springen und trotzdem sorgfältig editiert sind von dem
Fotografen Norbert Schoerner. Es sind Nahaufnahmen, die über den Zeitraum überraschend stimmig
geblieben sind: Kaschmir, technische Stoffe, scharfe Kanten, viel Dunkelblau, Schwarz zu Weiß,
Baumwollblusen, Hosenanzüge, Mäntel.

Mit Stücken wie diesen schaffte sie sich damals ja auch ihre treue Gefolgschaft, in den Achtzigern.
Heidemarie Jiline Sander, 1943 in Schleswig-Holstein geboren, hatte als Textilingenieurs-Studentin
einige Zeit in Kalifornien verbracht und arbeitete nach ihrer Rückkehr in den sechziger Jahren als
Moderedakteurin in Hamburg. Was ihr fehlte, waren die richtigen Kleider, die sie zum Erzählen ihrer
Geschichten brauchte. Also bat sie die Hersteller um Änderungen. Es war der Beginn ihres eigenen
kreativen Schaffens. Sie eröffnete einen Laden, begann eine eigene Linie zu entwerfen. Damals war
sie 24.

„Die positive Energie fand ich erstaunlich“

Später gründete sie einen Produktionsstandort in Deutschland, 1989 brachte sie das Unternehmen an
die Börse. Es waren dann auch in den Neunzigern nicht die Kleider, sondern vielmehr das wichtiger
werdende Geschäft mit den Accessoires, das ihr Lebenswerk bedrohte. 1999 hatte sie ihr
Unternehmen mehrheitlich an die Prada-Group verkauft, es sollte in Schuhe und Taschen investiert
werden. Die Zusammenarbeit lief nicht gut, ein Jahr später verließ die Kreativdirektorin das von ihr
gegründete Haus. Allerdings kam sie 2003 ein zweites Mal wieder, ging kurz darauf. Und übernahm im
Jahr 2012 abermals für drei Saisons die kreative Leitung. Jil Sander war also nie richtig weg, obwohl
sie schon länger keine Mode mehr macht.

Und obwohl Mode überhaupt in Deutschland nicht gerade als hohes Kulturgut wahrgenommen wird, ist
Sander eine Ausnahme. Es liegt vor allem an der engen Beziehung, die viele Kundinnen bis heute zu
ihr haben, selbst wenn sie seit Jahren keinen Fuß mehr in eine Jil-Sander-Boutique gesetzt haben.
Jene Frauen, die noch immer ihre Stücke aus vergangenen Jahrzehnten wie selbstverständlich tragen,
ohne dass man es den Teilen ansieht. „Die positive Energie fand ich erstaunlich“, sagte die
Modemacherin dem F.A.Z.-Magazin im September im Hinblick auf die Reaktionen zur geplanten
Ausstellung. „Ich begreife noch nicht so recht, warum die Kundinnen so intensiv mit meinen Entwürfen
leben. Diese emotionale Beteiligung ist mir rätselhaft. Ich konnte das nie richtig einschätzen.“
Jil Sander, die eine der führenden Modemarken schuf, ist wieder da. Die große Ausstellung im Museum
Angewandte Kunst in Frankfurt zeigt, dass ihr Design schon deswegen nicht altert, weil es zeitlos ist.

„Eine tolle Frau“, „eine Heldin“, „eine Ikone“
Es ist auch die Geschichte einer Designerin, wie sie heute nicht mehr möglich wäre. Die Mode ist
längst viel zu flüchtig geworden, als dass so viele Kunden, besonders Frauen, für die das Angebot
riesig ist, einer einzigen Marke in der Form die Treue halten. Phoebe Philo bei Céline, Alessandro
Michele bei Gucci mögen große Namen sein und Kunden intensiv bedienen, über Jahrzehnte werden
sie trotzdem nicht diese Bedeutung in deren Leben haben können. Ganz zu schweigen von der Marke
Jil Sander, von der auch jetzt, unter den neuen Kreativdirektoren Lucie und Luke Meier, nicht klar ist,
an wen sie sich genau richtet.

Um die Marke geht es in dieser Ausstellung ausschließlich in Verbindung mit der Frau Jil Sander, aber
auch deren Bedeutung ist eben eine, wie sie nur in einer anderen Zeit entstehen konnte. Dass die
Bedeutung dieser Frau bis heute, jedenfalls in Deutschland, besteht, dass ihr Name – wie das
jahrzehntealte Logo – kaum Patina bekommen hat, ist außergewöhnlich. Man hört es auch am
Freitagabend, zur Eröffnung der Schau. Beim Smalltalk, in den Gesprächen, die Besucher vor den
Exponaten führen, geht es um „so eine tolle Frau“, „eine Heldin“, „eine Ikone“.

Das Frankfurter MAK nimmt es als Anlass, gerade nicht zu historisieren. Der Titel dieser Schau: „Jil
Sander. Präsens“. Es gibt keine Chronologie, keine Jahreszahlen an Stellen, die eigentlich welche
vertragen würden. Wie etwa die Making-off-Bilder, auf denen die Designerin mit Linda Evangelista zu
sehen ist. So zeitlos wie ihre Stücke tatsächlich sind, präsentiert das MAK hier auch ihr Gesamtwerk,
ihre Herangehensweise an Mode, an Architektur und Kunst, an die Lancierung ihrer eigenen
Kosmetiklinie. Über ihre Arbeit soll man der Designerin in der Einzelausstellung nahekommen; es sollte
ja auch damals, als sie noch Kleider entworfen hat, nie um sie gehen.

Ihre Scheu war, so gesehen, die große Chance. Lieber setzte sie die Kundin an erste Stelle. Maximale
Kontrolle behielt sie selbstverständlich trotzdem. Schuhe und Taschen sind auch hier so exakt stimmig,
als handele es sich um einen Showroom. Und eine Drohne, die zuvor über ihren selbstentworfenen
Garten auf ihrem Landsitz, Gut Ruhleben am Plöner See in Schleswig-Holstein, geflogen ist, hat vor
allem Perfektion aufgenommen. Der beeindruckende Film in der Ausstellung zeigt es. Auch die Skizzen
für diesen Garten von 1985 sprechen für sich: Die Bäume sind nach Farben geordnet, für Rosen, für
Schwertlilien sind konkrete Plätze vorgesehen. Die Kraft der Natur hat gegen sie keine Chance, das
Gartenkonzept steht bis heute.

Bleibt die Frage, ob Jil Sander ein weiteres Beispiel sein kann für das Phänomen der so beliebten
Einzelausstellungen über Modedesigner. Am Eröffnungsabend deutet jedenfalls einiges darauf hin –
die Schlange, die bis zur Straße reicht, die Wartenden, die schon mal am ersten Glas Wein in der Kälte
nippen, die überlegen, ob sie gehen oder bleiben sollen. Könnte erfolgreich werden.

„Jil Sander. Präsens“ läuft bis zum 6. Mai 2018 im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt.

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